Stolen Roses
Xavier Díaz-Latorre, Latorre
Werke von von Biber, Bach, Telemann, von Westhoff, Weiss
Aufgenommen im November 2016, erschienen ℗2017
Laute: Grant Tomlinson, Vancouver, 1989
PASSACAILLE 1030, im Vertrieb von Note1
… Diebstahl kann sich gelegentlich lohnen – und gestohlene Rosen duften besonders süß …
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Xavier Díaz-Latorre spielt ein eher ungewöhnliches Programm, eines, das keine Programmstandards enthält oder – sagen wir – nicht nur aus Programmstandards besteht. Gut, Bach und Weiss, das sind gängige Namen … aber Biber, Telemann oder gar Johann Paul von Westhoff? Letzteren kennen nur Spezialisten … für Geige und Geigenmusik des Barock, aber keineswegs für Lautenmusik. Als Lebensdaten sind 1656–1705 im Booklet angegeben. Folker Göthel hat in der „alten MGG“ geschrieben: „Johann Paul von Westhoff (nach WaltherL) geb. 1656 in Dresden, gest. 14. oder 15. Apr. 1705 in Weimar. Westhoff war der Sohn des Kammermusikus Friedrich von Westhoff (1611–1694), der aus Lübeck gestammt haben soll, schwed. Rittmeister gewesen war und nach dem 30jähr. Krieg ein Unterkommen in der Dresdner Hofkapelle gefunden hatte. Johann Paul von Westhoff erhielt eine sorgfältige Erziehung und konnte auf Grund besonderer Sprachbegabung bereits 1671 Informator der Prinzen Johann Georg und Friedrich August werden. 1674 trat er als Violinist in die Dresdner Hofkapelle ein, der er mit einer von 200 auf 300 Talern aufsteigenden Besoldung bis 1697 angehörte.“
An Kompositionen von Westhoff sind uns ausschließlich Werke für Violine überliefert – auf eine davon geht die a-Moll-Suite zurück, die Xavier Díaz-Latorre für Laute-solo übertragen hat und auf der CD „Stolen Roses“ vorträgt. Es ist eine viersätzige Folge zeitüblicher Tänze (Allemande–Courante–Sarabande–Gigue), die jetzt in eine für das 17. Jahrhundert völlig übliche Form gebracht worden ist. Natürlich wurden instrumentale Kompositionen vor dreihundert Jahren auf den unterschiedlichsten Instrumenten gespielt – uns liegen zahlreiche Beispiele für solche „Transkriptionen“ vor, die oft nicht als solche gekennzeichnet sind und auch nicht als „Bearbeitungen“. Es bedarf kaum einer Erwähnung, dass auch die Chaconne von Johann Sebastian Bach, die auch im Programm der CD von Xavier Díaz Latorre enthalten ist, eine Transkription ist – auch sie geht zurück auf eine Komposition für Violine solo (Partita Nº 2 BWV 1004). Und, das bleibt niemandem verborgen: Xavier hat die epochale Interpretation der Chaconne durch Andrés Segovia aus dem Jahre 1947 sehr intensiv studiert und dabei auch die Segovia-typischen stilistischen Eigenarten übernommen. Das haben viele Gitarristen getan – einige konsequent bis zur bitteren Neige, andere weniger kritiklos kopierend. Latorre ist den stilistischen Vorgaben sehr weitreichend gefolgt, ohne allerdings den Schrullen des Maestro, seinen agogischen Verrenkungen zu folgen. Aber Segovia hat Gitarre und nicht Barocklaute gespielt – außerdem war nicht nur ihm, sondern seiner ganzen Generation von ausübenden Musikern der Begriff „Historische Aufführungspraxis“ pures Fachchinesisch.
Auch die Passacaglia in G minor von Heinrich Ignaz Franz von Biber (1644–1704) geht auf eine Komposition für Violine zurück und stammt aus dem Zyklus der „Rosenkranzsonaten“. Weiters hören wir die Suite g-Moll BWV 995 von Johann Sebastian Bach und zum Abschluss die Fantasia c-Moll von Silvius Leopold Weiss, die dem Album als Bonus-Track beigegeben ist. Sie ist enthalten in der großen Weiss-Handschrift im Besitz der British Library in London [Add. 30387, fol. 67v–68] und seit vielen Jahren und von zahlreichen Interpreten auf der Gitarre vorgetragen worden.
Wenn Lautenisten CD- oder Konzertprogramme zusammenstellen, müssen sie zunächst entscheiden, welche Art Musik sie spielen wollen: deutsche Lautenmusik des Barock zum Beispiel oder französische Musik. Von dieser Entscheidung hängt ab, welche Instrumentenauslegung sie verwenden müssen. Díaz-Latorre hat für die vorliegende CD eine dreizehnchörige Barocklaute ausgewählt, was ihm die Interpretation fast des gesamten barocken Repertoires ermöglicht.
Xavier Díaz-Latorre gehört zu den zahllosen Lautenisten, die durch die Schule von Hopkinson Smith gegangen sind. Hoppy, wie er von Freunden genannt wird, hat viele Jahre an der Schola Cantorum Basiliensis unterrichtet und gelehrt und durch seine Arbeit die Szene der „Alten Musik“ entscheidend mitgeprägt. Hoppy hat Repertoire erschlossen und zur Verfügung gestellt, und: Er hat viele Schüler und Studenten inspiriert, diese Entdeckungen weiterzutragen. Xavier Díaz-Latorre war einer von ihnen, er vertritt die eher virtuose, vielleicht Gitarren-nähere Liga der Hoppy-Schüler … ohne aber jemals die Ehrfurcht und die Verantwortung vor der Historie zu leugnen.
Koen Uvin hat den Text des Booklets geschrieben und damit die eine oder andere Frage beantwortet: „Im außergewöhnlich umfangreichen Œuvre Georg Philipp Telemanns ist die Laute noch weniger präsent als in dem Bachs. Nur eine einzige Partie in g-Moll für zwei Lauten ist überliefert. Doch wie einige Manuskripte im Archiv des Benediktinerklosters Kezeszow (Polen) beweisen, wurde die Musik dieses beliebtesten Komponisten seiner Zeit bearbeitet und in Tabulatur gesetzt. Im Jahr 1735 veröffentlichte Telemann in Hamburg zwölf „Fantasien für Violine Solo“. Wer diese musikalischen Rosen des Violinrepertoires stehlen will, mag anfänglich fürchten, sich zu stechen, denn diese Fantasien sind besonders violinistisch und problematisch. Doch letztendlich erweist sich das Gegenteil als wahr: Telemanns Polyphonie ist viel weniger streng als die Bachs, und sein galanter Stil eignet sich hervorragend für eine Aufführung mit der Barocklaute. Oder, wie das Programm dieser CD mit Lautenbearbeitungen von (vor allem) Violin-Kompositionen beweist: Diebstahl kann sich gelegentlich lohnen – und gestohlene Rosen duften besonders süß!“