Giuliani pop

IMG 0169 kleinKonzert am 11. Mai 2014, 11 Uhr; WDR, Großer Sendesaal, Wallrafplatz, Köln
Acht Brücken – Musik für Köln
(WRO) WDR Rundfunkorchester Köln; Leitung Frank Strobel; Solisten: Evelyn Glennie, Schlagwerk; Thorsten Drücker, E-Gitarre
Werke von Eduard, Johann und Josef Strauß, Michael Daugherty, Carl Michael Zierer
Sendung: WDR3, Mo. 12. Mai 2014, 20:05h
… Chapeau! …

Am 11. Mai 2014 war Muttertag … und so begann das wie immer exzellent und festtäglich aufgelegte WDR-Rundfunk-Orchester (WRO) mit Polka und Walzer der Brüder Eduard (1835—1916) und Josef Strauß (1827—1870).

Nun hatte die Konzertreihe „Acht Brücken“ in diesem Jahr allerdings unter der Überschrift „Im Puls“ die Technisierung der Gesellschaft zum Thema. Dazu Louwrens Langevoort, Festivalleiter und Intendant der Kölner Philharmonie im Programmheft: „Anfang des 20. Jahrhunderts führten rasante Fortschritte in Wissenschaft und Technik zu einer Mechanisierung weiter Teile der Industrie. Eine euphorische Technik-Liebe breitete sich aus, die sich auch im Kunstbegriff und im Kunstschaffen niederschlug. Im Bereich der Musik hieß das: Struktur, Takt und Rhythmus gewannen an Bedeutung. Apparaturen, die Musik erzeugten, mechanische Tonwiedergaben wurden entwickelt und hielten in den künstlerischen Prozess Einzug.“

Und tatsächlich: Selbst die Vertreter der Wiener Walzer-Fraktion haben sich zum technischen Fortschritt bekannt … wenn auch zu einem zunächst bescheidenen aber dennoch folgenreichen. Das WRO unter Frank Strobel spielte von den Strauß-Söhnen erst die Schnellpolka „Hectograph“ von 1880 (Eduard) und dann den Walzer „Die Industriellen“ (1864, Josef Strauß).

Hektographen (wörtlich „Verhundertfacher“) waren die Kopiergeräte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Folgenreich sollte ihre Erfindung dadurch werden, dass sie erlaubten, für wenig Geld und ohne großen technischen Aufwand einfache Zeitschriften oder Pamphlete herzustellen. Zum Beispiel waren die Flugblätter der „Weißen Rose“ um die Geschwister Scholl hektographiert. Folgen hatte die Erfindung auch für Generationen von Schülern, die ab sofort mit hektographierten Unterrichtsmaterialien bei (guter oder schlechter) Laune gehalten wurden.

Der Walzer „Die Industriellen“ von Josef Strauss ist frei von Gesellschaftskritik, heißt auch nicht „Die Bonzen“ und überhaupt: Die Mitglieder der Walzerkönig-Familie Strauß waren keine Sozialisten. Johann und seine drei Söhne hatten international Erfolg und die feine, wenn nicht gar die Imperiale Wiener Gesellschaft gehörte zu ihrer Kundschaft.

Und dann: Der Komponist Michael Daugherty, der hier schon bekannt ist, führte ins 21. Jahrhundert. Das den „Industriellen“ folgende Konzert „Dreamachine“ für Schlagwerk und Orchester ist eine Auftragskomposition des WDR und wurde am 11. Mai 2014 als Uraufführung von der berühmten Evelyn Glennie … bzw., um genau zu sein, Dame Evelyn Glennie … gespielt. Die Musikerin ist nicht nur weltweit anerkannt und gepriesen, sie wurde auch (für ihre Leistung als Musikerin) von ihrer Queen geadelt (sie, Evelyn Glennie, ist Schottin) und von bisher fünfzehn Universitäten mit Doktorwürden geehrt. Und geschäftstüchtig ist sie auch. Ihre Homepage weist sie nicht nur als Musikerin, sondern auch als Schmuck-Designerin mit eigenem Shop aus.

Evelyn Glennie ist unter anderem berühmt für ihr innovatives Repertoire und ihre Sammlung von Schlaginstrumenten. Knapp zweitausend unterschiedliche sollen es sein – aber was sagen schon Rekorde? Ihr Spiel mit Klängen und natürlich Rhythmen war es, das am Muttertag die Zuhörer begeistert hat. Rasseln und Maracas, Xylophon und Marimba … in dem Konzert, das Michael Daugherty für sie geschrieben hat, führte sie durch Klangwelten, die zudem benannt wurden.

1. Satz: Da Vinci's Wings. Mit Gedanken über einen großen Erfinder, vielleicht den größten aller Zeiten, beginnt das Werk: über Leonardo da Vinci nämlich und seine hölzernen Flugmaschinen. Eine Marimba ist es, die als Soloinstrument diesen ersten Satz beherrscht, eine Marimba, die wegen ihrer hölzernen Klangstäbe hölzerne Urklänge hervorbringt, mit denen Michael Daugherty seine Zuhörer zum Fliegen einlädt, ihnen Flügel verleiht … sie aber nie zu wildem Flattern aufruft.

PIMG 0164 400x266rogrammmusik ist es nur im übertragenen Sinn, die Daugherty da geschrieben hat. Eher sind es gelenkte und manchmal auch umgelenkte Assoziationen, die beim Zuhören beschäftigen … man hört zum Beispiel keine tonmalerischen Elemente – etwa den arttypischen Flügelschlag eines Kolibris, der ihn zum Schweben bringt – sondern eher Klangbilder, die Erinnerungen wachrufen. Wie klingt zum Beispiel „Schweben“, mag man fragen. „Schweben“ klingt überhaupt nicht, aber man verbindet es mit Ruhe, mit Nichtstun, Bewegungslosigkeit … und genau das kann ein Schlaginstrument nicht darstellen. Es muss immer wieder aufs Neue angeschlagen werden. Schweben geht nicht!

Natürlich hatte Evelyn Glennie ein Orchester an ihrer Seite und das war so besetzt, dass es an klanglichen Illusionen alles Mögliche bereithielt. Michael Daugherty wird als Komponist gern in eine Schublade gepackt, auf der Filmmusik steht … obwohl … bisher hat er keine solche Partitur geschrieben. Aber auch in „Dreamachine“ finden sich immer wieder Passagen, in denen man als Zuhörer Szenen vor sich ablaufen oder eindrucksvolle Bilder sieht. Und wenn man sich seine anderen großeren Kompositionen vorstellt: „Mount Rushmore” oder „Route 66” – ohne sie zu hören, hat man die Bilder vor Augen. Ich werde demnächst berichten!

Das Konzert für Schlagwerk und Orchester von Michael Daugherty jedenfalls, um das es hier geht, ist nicht von Hollywood finanziert worden und auch nicht von Kinobesuchern, sondern von uns, die wir Rundfunkgebühren zahlen!

Professor Lucifer Butts GELB 400x2502. Satz: Rube Goldberg's Variations. Rube (Reuben Lucius) Goldberg (1883—1970) hat hat sich immer wieder mit Erfindungen befasst, die das Leben komplizierter gemacht haben. Was simpel geht – Rube hat’s schwierig gemacht! Seine automatische Serviette, die gleichzeitig salzt, pfeffert, nachschenkt und zum Geburtstag gratuliert, ist um die Welt gegangen. Evelyn Glennie spielt alle möglichen Rassel-, Knatter-, Klimper-, Doodle- und sonstigen Instrumente aus ihrer Sammlung: Lauter kleine Geräuschfolgen, mechanische Abläufe, Uhrwerke, die ineinander greifen, um irgendeine Maschine in Bewegung zu halten, die niemand braucht.

3. Satz: Der „Electric Eel“ ist der Zitteraal, den Fritz Kahn (1888—1968) gemeint hat: … so elektrisch, dass er eine Glühlampe leuchten lassen kann. Aber Nach Erreichen der Weißglut verblasst das musikalische Aufglühen allmählich wieder zu stiller Dunkelheit.

4. Satz: Und schließlich: „Vulcan’s Forge“ … Schmiede des Vulkans. Er, Vulkanos, der römische Gott des Feuers und der Schmiedekunst, der Waffenschmied und Herr der Blitze ist natürlich musikalisch weit entfernt von Wiener Walzerseligkeit. Bei ihm hat Evelyn Glennie ein weites Betätigungsfeld gefunden … allerdings weniger mit feinen klanglichen Differenzen, sondern mit Donner und Doria.

„Dreamachine“ ist mehr als ein großes Spektakel … aber das ist es auch. Es ist auch mehr, als eine Verklanglichung von Bildern. Trotzdem war die Uraufführung am 11. Mai 2014 mit der Solistin Evelyn Glennie großes Kino.

Die zweite Abteilung des Konzerts wurde wieder mit Strauß & Co. aufgemacht: Es gab „Mit Dampf“ als Hymne auf die Eisenbahn, „Schwungräder“ und „Phonographen“ von Carl Michael Ziehrer.

Schließlich noch einmal Michael Daugherty: Am Ende des Programms gab es als Deutsche Erstaufführung sein Konzert für E-Gitarre und Orchester „Gee’s Bend“.

Deutsche Erstaufführung? Dieses Werk ist hier schon vorgestellt- worden, nämlich als es im Dezember 2010 auf CD aufgenommen worden und schließlich bei Querstand erschienen ist – mit dem gleichen Solisten und dem gleichen Orchester – allerdings unter einem anderen Dirigenten (nämlich Rasmus Baumann). Damals, 2010, ist das Werk allerdings nicht öffentlich aufgeführt worden – daher war das Publikum am 11. Mai 2014 Zeuge der Deutschen Erstaufführung.

Und das Publikum hat davon profitiert, dabei gewesen zu sein, denn „Gee’s Bend“ ist ein „Live-Konzert“. Um Herr im Ring zu sein, muss man als „Klassiker“ auf sechs Nylon-Saiten – im „Concierto de Aranjuez“ zum Beispiel – mangels Lautstärke ständig Vollgas geben oder sich mit einem Verstärker anfreunden, dessen Benutzung sich klanglich oft negativ auswirkt. Bei der E-Gitarre hat man dieses Problem nicht – oder in anderer Form. Dazu kommt, dass man sich frei auf der Bühne bewegen kann, weder mit Stuhl noch mit Fußbänkchen zu kämpfen hat und direkter mit dem Publikum kommuniziert.

„We rock the WDR“ hat Thorsten Drücker mir vor dem Konzert gesagt – und das hat er gemacht! Er war der Solist auf der erwähnten CD und am 11. Mai in der Deutschen Erstaufführung. Und er hat wieder einmal bewiesen, dass er es kann … nicht das Konzert zu spielen, das meine ich nicht! Das muss und kann man voraussetzen. Nein, dass er den Spagat zwischen klassischer musikalischer Disziplin und Abrocken schmerzfrei hinkriegt. Das WRO kann das, daran zweifelt niemand, aber ein Gitarrist? Dass ein E-Gitarrist Noten liest, ist nicht selbstverständlich. Anders, als in Noten, kann das Konzert von Michael Daugherty aber nicht aufgeschrieben sein. Dass Thorsten Drücker aber die Noten so authentisch in Musik umsetzen kann, als wäre er ein nicht-Noten-lesender Rock-Gitarrist … Chapeau!

Zwischen den Walzern und Polkas, die das WRO präsentiert hat, war ich einmal geneigt „Prosit Neujahr“ zu rufen … aber natürlich wäre das unpassend gewesen! Das Datum hat nicht gepasst, auch nicht der Anlass. Aber dass die Wiener, wie Adorno einmal gemeint hat, ein natürliches Monopol auf Musikalität besäßen, das hat dieses morgendliche Konzert am Wallrafplatz wieder einmal widerlegt.