Andrea Dieci, Guitar
Sor: Complete Sonatas for Guitar
Aufgenommen im April und Juni/2016, erschienen 2017
Gitarre: José Romanillos
BRILLIANT CLASSICS 95395
… das Beste vom Besten, was uns an Gitarrenmusik aus der „klassischen Zeit“ zur Verfügung steht …
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Andrea Dieci spielt Opera 14, 15b, 22 und 25 von Fernando Sor – große Musik, das Beste vom Besten, was uns an Gitarrenmusik aus der „klassischen Zeit“ zur Verfügung steht. Und alle dargebotenen Werke sind Sonaten, sie verkörpern also das klassische musikalische Formprinzip schlechthin. Was wollen wir mehr?
Als Fernando Sor (1778–1839) seine Sonaten schrieb, neigte sich die Hochblüte der Gitarre schon ihrem Ende zu, außerdem war das Instrument, obwohl es sich einer großen Anhängerschaft erfreute, immer noch nicht überall anerkannt. Im Gegenteil: Das Interesse an dem unscheinbaren Zupfinstrument verblasste zunehmend.
In einer Ausgabe der Zeitschrift Revue Musicale (III, 1828, S. 40), herausgegeben von François-Joseph Fétis (1784–1871), nannte ein Kritiker das Problem beim Namen: „Ce dernier morceau, presque toujours écrit à quatre parties, offre une harmonie pure, élégante, et nous a paru être d’une exécution fort difficile. Mais nous avons regretté que le son de l’instrument ne fût pas plus nourri. M. Sor nous semble avoir trop négligé cette partie essentielle d’un instrument trop peu sonore par lui-même.“ Die Argumentation ist nicht neu. Gesagt wird, Monsieur Sor habe sauber und elegant gespielt, leider aber ein zu leises Instrument für seine Darbietungen ausgewählt. Das ist zweihundert Jahre her, stammt also aus einer Zeit, als von Lärmüberflutung noch keine Rede war!
Andrea Dieci spielt auf einer modernen Gitarre, über mangelnde Laustärke kann man sich bei ihm also keinesfalls beschweren. Das könnte man auch nicht, wenn er auf einer restaurierten originalen Lacôte spielte oder auf einer anderen Gitarre der Zeit Sors. Warum? In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Gitarristen Darmsaiten benutzt und die waren nicht nur ziemlich unzuverlässig, was Haltbarkeit und Stimmung angeht, sondern auch empfindlich. Mit Fingernägeln konnte man nicht spielen oder wenn, dann sehr vorsichtig und „leise“. Heute werden auch originale Gitarren des 19. Jahrhunderts und deren Nachbauten mit Nylon besaitet … oder mit modernen Darmsaiten, die robuster sind als ihre Vorgänger … und lauter!
Und dann: Wir hören Musik der Zeit Sors auf originalen Gitarren eher selten live. Meist hören wir sie von Konserven, die mit aller Sorgfalt und den modernsten Verfahren unserer Zeit angefertigt worden sind. Die Frage, ob wir die Musik in angemessener Lautstärke hören oder nicht, ist somit längst zweitrangig. Hören wir sie auf einer Lacôte, passen wir Saal und Auditorium darauf an – hören wir sie in der Kölner Philharmonie, wird sie entweder auf einer modernen Gitarre oder auf einer historischen mit Verstärkung gespielt. Und wenn der WDR die Aufnahme, gespielt auf einer historischen Gitarre, anfertigt, drehen wir den Verstärker einfach lauter. Geht alles!
Aber Andrea Dieci hatte, als er das Schallplattenprojekt „Sor – Complete Sonatas“ anging, mehr zu entscheiden als die Frage: Historische oder moderne Gitarre? Und wie gesagt, er hat sich für eine moderne Gitarre entschieden, für eine sehr wohlklingende moderne Gitarre von José Romanillos übrigens! Damit hat er nicht nur eine lautere Gitarre ausgewählt, sondern auch die ihm vertraute Spieltechnik und andere aufführungspraktische Gepflogenheiten der modernen Konzertgitarre … es sei denn, er hat sich für eine „HIP“ entschieden, eine „Historically Informed Performance“. Zwischen Aufführungen, die streng nach Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis auf die Bühne gebracht werden und solchen, die nicht nur auf modernen Instrumenten, sondern zudem nach heutigen Spielgewohnheiten ausgeführt werden, gibt es nämlich diverse Varianten. Zum Beispiel ist das Spiel auf einer Lacôte nicht nur leiser als auf einer Romanillos, die Gitarren der Zeit Sors waren außerdem kleiner mensuriert, mussten also auch deshalb anders gespielt werden. Außerdem war die Saitenspannung geringer … alles Gründe, die andere Spielweisen hervorbrachten, und zwar keineswegs weniger elaborierte oder gar „minderwertige“. Höchstens andere!
Andrea Dieci folgt irgendwie den Erkenntnissen einer „HIP“ – anders geht’s heutzutage eigentlich nicht mehr. In den letzten Jahrzehnten haben sich neue Erkenntnisse über beispielsweise Tempo, Artikulation oder Verzierungstechniken so in das allgemeine musikalische Bewusstsein eingefräst, dass niemand mehr an ihnen vorbeihören kann. Das heißt also, dass jeder Musiker irgendwie „HIP“ ist – der eine eben mehr, der andere weniger. Andrea ist nicht „hipper“ als andere, spielt sensibel und erlaubt sich keine Gitarren-typischen Extravaganzen … aber deren Zeiten sind schließlich vorüber. Nein, Andrea ist sich seiner Verantwortung als Interpret bewusst: Er setzt sich für Sor und dessen Musik ein, ohne sich dabei klammheimlich in den Vordergrund zu schmuggeln. Sein Spiel ist ebenso ehrlich, wie es poetisch und virtuos ist. Und es ist überzeugend!