Klemm, Hans Georg, „Echte Kunst ist eigensinnig!“ – Das Leben des Ludwig van Beethoven, Darmstadt 2011, WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), ISBN 978-3-534-24418-8, € 19,90
„Es ist eine Nacht im Dezember. Vom blauschwarzen Himmel leuchten die Sterne hernieder und spiegeln sich in dem still und mächtig strömenden Rhein. In tiefem Schlummer liegt Bonn, die alte Residenzstadt der kölnischen Erzbischöfe“ … dies ist nicht das Entree zu Klemms Beethoven-Biographie, könnte es aber sein! So beginnt vielmehr der zweibändige Roman „Beethoven“ von Felix Huch von 1927 bzw. 1931, den Klemm (mit falschem Erscheinungsjahr übrigens) in das Literaturverzeichnis seines Buches aufgenommen hat. Nicht verzeichnet ist dort die neuere und neueste Fachliteratur – weder die Neuausgaben von Briefen und Dokumenten, noch Literatur zur Biographie des Komponisten oder zu seinen Werken … sieht man von einer Handvoll rundum informierender Publikationen wie dem „Beethoven-Lexikon“ (Laaber 2008) ab.
Woher Klemm sein Wissen über Beethovens Vita, das er beredt vor seinen Lesern ausbreitet, geschöpft hat, darüber hüllt er sich in Schweigen: keine Anmerkungen, keine Nachweise! Zwar beteuert er im Nachwort, er habe für sein Buch „all das herangezogen, was geeignet schien, ein lebensnahes Portrait Beethovens und seiner Zeit zu schaffen, darunter eben auch Anekdotisches, dessen Wahrheitsgehalt kaum mehr überprüfbar ist“ [S. 132], aber reicht das?
Seine Beethoven-Biographie beginnt Klemm so: „Es ist eine kalte Dezembernacht, als die kleinen, pechschwarzen Augen sich zum ersten Mal öffnen und doch nur wenig vom Licht der Welt erblicken. Denn finster ist es in der winzigen niedrigen Dachstube.“ Ganz am Schluss, in einem Postskriptum, gibt er [Klemm] dann zu: „Um ehrlich zu sein: Auch [!] am Anfang dieses Buches stand nicht unbedingt die Wahrheit […] Denn ob es wirklich frostig war am Tag der Geburt im Dezember 1770, ist unbekannt. Man weiß nicht einmal, ob das Kind in der Nacht oder am Tag geboren wurde.“ Na ja!
Biographische Details sind es also nicht, die Klemm aneinanderreihen will, auch keine Werkanalysen – für beides gibt es zudem ausreichend Literatur. Es ist der Mensch Beethoven, seine Ängste und Freuden, seine Lieben und seine Enttäuschungen, die er zu schildern versucht.
Dabei legt er besonderen Wert auf den Nachweis, dass Beethoven keineswegs der „finstere, rücksichtslos grobe Mann mit ungezügeltem Temperament“ gewesen ist, für den er („leider noch immer allzu oft“) [S. 56] gehalten wird. Er war, so Klemm, eine „hochsensible Person“, und das im Sinn der Psychologin Elaine Aron, die 1997 das Phänomen der „Sensory processing sensitivity“ beschrieben hat, die zu einer Überstimulation („Reizüberflutung“) führt. Dieses neuronale Phänomen (HS für „Hochsensitivität“ oder „Hochsensibilität“) ist bisher weder eindeutig definiert noch erforscht, trotzdem bereitet Hans-Georg Klemm bereits Biografien weiterer aus seiner Sicht hochsensibler Komponisten vor: Richard Wagner und Gustav Mahler. Was Beethoven angeht, hofft er, sein Buch möge aufgrund seiner Erkenntnisse dazu beitragen „das Bild von diesem genialen Komponisten zu korrigieren, ihm vielleicht sogar eine späte, sehr späte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ [S. 133]
Hans-Georg Klemm wird fast zweihundert Jahre Beethoven-Literatur nicht widerlegen … nicht einmal sinnvoll ergänzen. Zu viele Autoren vor ihm haben sich mit der Persönlichkeit des Komponisten befasst, mit seinen Krankheiten, deren psychischen Folgen und auch mit seinen „Umgangsformen“, die Klemm als „sonderbar“ beschreibt [S. 54] … dabei allerdings übersieht er, dass Beethoven Rheinländer war und echte Kunst (auch damals schon) eigensinnig. Aber nicht einmal, dass sich dieses „höchst reizvolle Werk“ von den „zumeist sehr sachlichen [!] Beethoven-Biographien“ [Klappentext] unterscheidet, wird ihm höhere literarische Weihen bescheren. Auch nicht die Elogen eines Rezensenten, dessen Namen man im Impressum des Buches wiederfindet. Rainer Aschemeier, der als Redakteur (mit Firma in Weinheim) an der Entstehung des Buchs mitgewirkt hat, schrieb schon vor (oder mindestens gleichzeitig mit) seinem Erscheinen, es „könne das wichtigste Musikbuch des Jahres werden“. Kein Wunder: Aschemeier stand damals als „Programm-Manager“ im Sold der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt!