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Saints and SinnersSaints and Sinners: The Music of Medieval and Renaissance Europe
Aufgenommen zwischen 1992 und 2013, erschienen 2014
NAXOS, 10 CDs in Kassette, 8.501067
… mehr als eine Art klingender Musikgeschichte zu einem sensationellen Preis …

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Eine klingende Anthologie von mehr als zwölf Stunden Dauer zusammenzustellen, die nur aktuelle Aufnahmen aus eigener Produktion enthält und den Zuhörer Schritt für Schritt durch die Musikgeschichte vor 1600 führt, das kann nur NAXOS. Dieses 1987 gegründet Label darf sich heute mit über 2500 Titeln „The World's Leading Classical Music Group“ nennen und das bei einem Bekenntnis zu „unduplicated repertoire“, das heißt zu dem Bemühen, nur Werke aufzunehmen, die (im eigenen Programm) noch nicht vorliegen. Das kann nicht hundertprozentig erfüllt werden und auch bei NAXOS gibt es mehrere Aufnahmen des „Concierto de Aranjuez“ oder der „Vier Jahreszeiten“ – um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber das Label setzt insgesamt auf Repertoire-Vielfalt und auf verbraucherfreundliche Preise und weniger auf Personenkult, was Interpreten angeht. So ist in kurzer Zeit ein Unternehmen herangewachsen, das Projekte wie die vorliegende Sammlung problemlos mit eigenem Material ausstatten kann.

Die meisten verwendeten Aufnahmen stammen aus den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, einige sind jünger. Natürlich sind alle auf dem neuesten Stand der Technik.
Die Reihenfolge der dargebotenen Werke ist zunächst eine chronologische: Die ältesten stammen aus dem 12. und 13. Jahrhunderts – die jüngsten aus der Zeit um 1600. Intern wird dann noch systematisch gegliedert: So enthält beispielsweise CD-6 ausschließlich Werke englischer Komponisten – von William Mundy (ca. 1529—?1591) bis Orlando Gibbons (ca. 1545—1594).

Je weiter wir uns in der Auswahl der Musiken der Renaissance, sprich dem 15. und 16. Jahrhundert nähern, desto sicherer wird die Quellenlage und desto mehr wissen wir über die Aufführungsbedingungen zur jeweiligen Entstehungszeit der Kompositionen. Seit Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert wurden nicht nur Texte gedruckt, sondern auch Noten und Tabulaturen. Das setzt uns heute in die Lage, über a. Instrumentalmusik und b. überhaupt weltliche Musik der Zeit Aussagen zu treffen. Alle ältere Musik ist naturgemäß nur in Handschriften überliefert und die wurden vornehmlich von Klerikern angefertigt. Das lässt in uns den Eindruck wachsen, es habe vor, sagen wir, 1500 nur sakrale Musik gegeben … was natürlich nicht stimmt. Von Abbildungen und aus Berichten wissen wir, dass Musik sehr wohl auch instrumental ausgeführt worden ist und profanen Zwecken gedient hat. Außerdem ist aus dem frühen 16. Jahrhunderts so weit entwickelte Instrumentalmusik gedruckt überliefert, dass sich Rückschlüsse auf deren Beschaffenheit vor 1500 aufdrängen. Jede Aussage über ihre Gestaltung und Ausführung bleibt allerdings spekulativ. Wenn Lucien Jenkins im Vorwort zum umfangreichen Booklet der NAXOS-Anthologie schreibt: „No musical sound seems to us today more characteristic of the Middle Ages than plainchant“ [S. 34], dann stimmt das nur insofern, als wir über die profane Musik keine verlässliche Aussage treffen können, obwohl sie im mittelalterlichen Leben eine Rolle gespielt hat.

Die Frage, ob in der Quantität und Dichte des Materials, das in der vorliegenden Anthologie vor uns ausgebreitet wird, deren hauptsächliche Qualität liegt, ist natürlich nicht einfach zu beantworten. Zahlreiche Solisten und Ensembles waren an den Aufnahmen beteiligt, zahlreiche unterschiedliche Konzepte lagen den Aufführungen und Aufnahmen zugrunde. Dass so entstandene Sammlungen von über zwölf Stunden Musik nicht wie aus einem Guss erscheinen können, dass sie Sprünge und Risse aufweisen müssen, ist vorgegeben. Vor allem bei Musik, deren Ausführung spekulative Risiken in sich birgt, muss man mit höchst unterschiedlichen Herangehensweisen rechnen, zumal sich in den über zwanzig Jahren, in denen die einzelnen Aufnahmen entstanden sind, Haltungen seitens der Musikerschaft geändert haben. Überliefertes Material wird immer freier behandelt, weil man immer mehr über dessen authentische Wiedergabe weiß. Die Sammlung „Saints and Sinners“ von NAXOS ist also mehr als eine Art klingender Musikgeschichte. Sie dokumentiert auch ein Stück Rezeptionsgeschichte Alter Musik.